Sicherheit - eine Lügengeschichte

Der Urlaub

Vor Kurzem besuchte ich ein ferneres Land namens Imbecilia. Es liegt nicht weit von Utopia und die Gastprofessoren vom nahegelegen Laputa sind dort gern willkommene Wissenschaftler. Imbecilia ist ein modernes, demokratisches Land, das es zu Wohlstand gebracht hat und zu einem gewissen Ansehen in der Welt. Da Imbecilia viele alte Kulturschätze besitzt, von denen es eine beträchtliche Anzahl über Kriege und andere schädlichen Einflußnahmen retten konnte, ein angenehmes Klima hat und freundliche, ehrliche Einwohner, führte mich eine Urlaubsreise dorthin.

Der Zufall wollte es, daß ich kurz nach meiner Ankunft auf dem Flughafen dem Bekannten A. aus meiner münchner Studienzeit begegnete. Wir waren nie enge Freunde, aber ich freute mich, ihn wieder zu sehen. Er selbst schien über die Maßen erfreut, umarmte mich und hieß mich mit einer fast peinlichen Herzlichkeit willkommen in seiner Heimat. Ja, er war vor fast zwanzig Jahren ausgewandert, hatte sein Glück in Imbecilia gemacht und war, wie ich bald von ihn erfuhr, Datenschutzbeauftragter der lokalen Regierung. Er empfahl mir eine gute Unterkunft (ich hatte das Pech, daß alle Hotels ausgebucht waren) und lud mich sehr verbindlich zu Abend ein, um von alten und neuen Zeiten zu plaudern.

Zuerst aber verabschiedeten wir uns; ich ließ mich von einem Taxi zum empfohlenen Quartier bringen. Während der Fahrt holte ich meinen Reiseführer heraus, um ein paar Sehenswürdigkeiten zu finden. Der Zufall wollte es, daß ich das Buch beim Kapitel "Regierung und Parlament" aufschlug. Insgesamt nichts Ungewöhnliches. Die Regierungsgewalt teilt sich in zwei Kammern auf, Legislative, Judikative und Exekutive arbeiten, soweit es geht, ohne unnötige gegenseitige Einflußnahme. Der Premierminister oder Kanzler heißt hier "der Senile" und wird alle 4 Jahre direkt vom Volk gewählt. Seine Minister haben den Ehrentitel "Die Debilen". Sie werden vom Senilen ernannt; ihre Anzahl richtet sich nach der Zuteilung der fachlichen Aufgabengebiete und variiert um die zwanzig. Die Beamtenschaft, "Die Hämorrhoiden" sind pensionsberechtigt und genießen das Wohlwollen des Staates, da auch sie dem Staat persönlich sehr verpflichtet sind. Die Verfassung ist aufgrund schlechter früherer Erfahrungen offenbar klug ausgedacht und stellt die Persönlichkeitsrechte und die Freiheit der Bürger sowie der Presse unter besonderen Schutz. Ich sehe: Imbecilia ist eine Musterdemokratie, die sich mit den anderen der Welt messen kann.

Eine ausgedehnte Besichtigungstour ließ mich meinen Bekannten A. vergessen und ich kam gerade noch rechtzeitig zu seiner kleinen Altbauwohnung unweit des Hauptstadtzentrums.

Der erste Abend

A. begrüßte mich in einer sehr überschwenglichen Art. Er wirkte nahezu aufgekratzt. Erst als ich mich niedergelassen und von meinen ersten Eindrücken berichtet hatte, begann er sich zu entspannen.
"Und? Wie gefällt's Dir?"
"Sehr gut. Ich habe mit ein wenig die Altstadt angeschaut, natürlich war ich in der Staatsbibliothek..."
"... und bist dort hängengeblieben! Stimmts?" fragte er lachend. Er ahnte, warum ich einen etwas abgehetzten Eindruck machte. A. kratzte sich reflexartig am Hinterkopf. Sein rechter Hemdsärmel ist offen, entblößt eine Tätowierung. Atztekisches Motiv. Offenbar ein Kalenderdatum in der typischen, gedrängten Schreibweise. A. ist genau wie ich, Algebraiker. Das Motiv ist verständlich. A. kann nichts von meine Kalenderstudien wissen. Zufall.
"Und sonst? Fiel Dir nichts auf? Die Kameras an den Straßenecken?"
"Ach die. Verkehrskameras gibt es auch bei uns an fast jeder Ecke" sagte ich.

A. wurde nachdenklich. "Auch solche, die Dich erkennen und Dein Gesicht mit der zentralen Verbrecherkartei abgleichen?" --- "Was soll der Unfug?" sagte ich. "Die Kameras haben mich hier noch nie gesehen" - "Eben, deswegen bist Du besonders verdächtig..." A. stockte. Mit einer sehr verbindlichen Handbewegung wies er mir den Weg zur Tür. Ich ging grußlos, beleidigt. Im Licht der Straßenlampen trat ich vor die Haustür und sah aus einem Augenreflex heraus das Schwenken einer Kamera an einer Hauswand schräg gegenüber.

Anruf

A. rief mich an. Ich hatte ihm abends meine Mobiltelefonnummer gegeben. "Höre! Ich wollte Dich nicht rauswerfen! Wirklich nicht." A. klang etwas verzweifelt. "paß auf. Gehe in das Cafe Zentral. Heute. Acht" A. legte grußlos auf.
Der Penner an der Ecke schaut mich schon seit Minuten an. Der Kerl gibt keinen glaubwürdigen Penner her. Dafür ist er zu fett, zu wohlgenährt, seine Lumpen zu malerisch. Ich beginne, Gespenster zu sehen. Oberhalb des Penners ist eine Verkehrskamera montiert. Die Kamera schwenkt, die Optik blitzt auf.

Der zweite Abend

Ich reiße mich rechtzeitig von den Schätzen der Staatsbibliothek los. Ich bin eine Viertelstunde im bewußen Cafe - zu früh. A. ist nicht in Sicht. Ich bin wirklich zu früh dran. Ich beschließe, eine Runde um den Stock zu gehen. In der Ecke hockt ein Penner, wohlgenährt, ein alter Bekannter. Er lehnt sich bei meinem Anblick etwas zurück. Wenn ich ihn nochmals sehe, gebe ich ihm einen Tritt in den Hintern. Ich bin nicht gewalttätig. Aber schmierige Typen wie diese schreien geradezu nach Abreaktion. Der Kerl stinkt. Nicht physisch, dafür ist er zu gepflegt. Das Schwein weckt Urinstinkte in mir. Ich warte auf A. Nach der akademischen Viertelstunde werde ich von meinem Handy aufgeschreckt. A. ist dran: "Sitzt der Sack immer noch in der Ecke?" Mir ist sofort klar, von wem er redet. "Ja" - "Dann komme ich".

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Fortsetzung folgt


Stand: 26.11.2002 /
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